Michael Jackson wurde für nicht schuldig befunden. Jetzt kehrt er in das Gefängnis seiner Kunstwelt zurück
Der Freispruch ist kein Freispruch. Michael Jackson ist in das Gefängnis seiner Kindheit zurückgekehrt. Nichts zeigte dies deutlicher als Jacksons letzter Auftritt selbst: Zur Verkündung des Urteils erschien er wie ein vorübergehend aus der Haft Entlassener. Die Wagenkolonne, die ihn zum Gericht brachte, war ein Gefangenentransport oder, düsterer noch, ein Leichenzug, schwarze Limousinen mit schwarzen Fenstern.
Sie haben einen lebenden Toten gebracht – und wieder mitgenommen. Was sollte Jackson auch passieren? Es ist ihm alles schon passiert. Für Jackson ging es in dem Urteil nur noch darum, ob er in ein staatliches Gefängnis kommt oder ob er in dem Kerker weiterleben darf, den er sich mit seiner berühmt-berüchtigten Farm Neverland selbst gebaut hat. Neverland! Nur die aus Blumenrabatten gepflanzte, riesige Uhr zeigt, dass auch hier den Glücklichen wie den Unglücklichen noch die Stunde schlägt.
Was immer die Details der Urteilsbegründung ergeben, die in den nächsten Wochen zerpflückt werden wird: Das Urteil ist gerecht, weil es dem Stand der Ermittlungen gerecht wird. Trotz der Tonnen angeblicher Beweismaterialien, die eine Hundertschaft Polizisten in der Neverland-Ranch beschlagnahmte, trotz eines kurz vor den Schlussplädoyers gezeigten Videos mit belastenden Aussagen des 13-Jährigen, der durch Zufuhr von Alkohol gefügig gemacht worden sein soll, ließ sich der Verdacht gegen Jackson nicht erhärten. Die Jury hätte auch zu einem anderen Ergebnis kommen können. Es war die dünne Faktenlage, die den Ausschlag zum Freispruch gab. Die Geschworenen haben dem populistischen Druck zu Härte nicht nachgegeben und daran erinnert, dass auch für gefallene Popstars die Unschuldsvermutung gilt.
Sage keiner, dies sei eine Selbstverständlichkeit. Der Jackson-Prozess war, obwohl die Öffentlichkeit aus dem Gerichtssaal verbannt wurde, ein Schauprozess im wahrsten Sinne des Wortes, in tragenden Rollen besetzt mit Talkmastern, die sich wie Richter gerierten, mit Prominenten, die sich spektakulär auf die eine oder andere Seite schlugen, mit einem Staatsanwalt auf Rachefeldzug und einem Angeklagten in strategischer Opferrolle. Dazu kamen investigative Journalisten, die für eine Hand voll Dollar mehr um Bilder kämpften. Zu den Gewinnern des Prozesses gehört allen voran der Besitzer eines Flachdachs in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes. 300000 Dollar soll er mit der Vermietung von Parzellen an die Berichterstatter verdient haben.
Der »Fall Jackson« ist ein Lehrstück über die Macht geworden, die die Medien über die Wirklichkeit haben. Zugleich zeigt er, wie ambivalent die Beziehung des Publikums zu Stars dieser Größenordnung bleibt. Celebrities heißen die Personen, die so viel symbolische Energie auf sich ziehen, dass am Ende alle ihre Lebensäußerungen auch nur noch als Zeichen gelesen werden.
Wenn es in Michael Jacksons Universum ein Zeichen gab, das alle anderen himmelweit überragte, dann war es seine Jagd nach der Kindheit. Davon war er besessen. Die Kindheit, so könnte man in Anspielung auf einen Satz von Jean Paul sagen, ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Für Jackson gilt das nicht. Er hat dieses Paradies in der Wirklichkeit seines Lebens nie betreten können, er hat es künstlich schaffen müssen. Am Anfang seines Lebens stand für ihn nicht Unschuld, sondern Gewalt. Der Vater hat ihn misshandelt und fürs Leben zugerichtet.
Damit begann Michaels Drama. Er wurde mit harter Hand ins Leben geprügelt und in den Erfolg. Als der sich einstellte, schien der Vater gerechtfertigt: Seine Schläge waren eine Abschlagszahlung auf die Zukunft. Sie hatten sich rentiert.
Das machte den Auftritt seiner Familie zur Urteilsverkündung so wirkungsvoll. Es war eine Inszenierung, und sie hieß: Dieser Mann ist kein Triebtäter, er ist selber ein misshandeltes Kind. Der Vater, der seinem Sohn das Leben zur Hölle gemacht hatte, stand nun als Zeuge an Michaels Seite. Ist es nicht die Schuld des Vaters, wenn Jackson heute wie eine leer gesaugte, kaum des Gehens mächtige Mumie wirkt? Aber dass der Sohn den Alten bei dieser Gelegenheit als Tröster und Stütze neben sich duldete, zeigte auch: Er hat dem Vater vergeben. Es war dieses Inbild familiärer Fürsorge, Abbitte, Gnade, das nach außen wirken sollte: Wenn der Sohn seinem Vater die Grausamkeit verzeiht, so sollen auch das Gericht, die Geschworenen, letztlich das Publikum in aller Welt seinem berühmten Star jene Taten vergeben, die nicht einmal bewiesen sind.
Das ist das größte, vielleicht auch das letzte Bild, das Jackson seinen Fans hinterlässt. Und weil er seinem Vater den Raub der Kindheit verzeiht, ist für ihn selbst endlich der Weg offen in jene zweite Kindheit, die Neverland heißt. An Neverland klebt von Anfang an die ebenso große wie infantile Hoffnung, das ihm Vorenthaltene zurückerobern zu können. Jackson wollte sein Trauma unschädlich machen, deshalb suchte er das Leben vor der häuslichen Gewalt, deshalb stand alles im Zeichen des Unversehrten. Die Kindheits-Imago war der magnetische Pol im Territorium des Pop. Michael Jackson wurde zu Peter Pan. Aber Neverland, die naive Insel im Meer der Erwachsenen, wurde zu einem Freiluftgefängnis, ein kaltes und absurdes Paradies, eine Zuchtstätte manipulierter Träume.
Nichts dokumentiert Jacksons Tragik trostloser als diese Ranch. Je verzweifelter er der Kindheit nachjagt, desto weiter entfernt er sich von ihr. Es gibt keine Rückkehr, denn die Bilder von Unschuld und Kindheitsglück sind längst selbst kalifornisiert und Bestandteil jener erwachsenen Welt, der Jackson entfliehen will. Nichts wirkt korrumpierter und zerstörerischer als die Techniken, mit denen Jackson auch körperlich versucht, sein Trauma abzustreifen und aus seiner Haut zu fahren. Die Serie von Operationen, die unzähligen Hautaufhellungen, überhaupt der Masochismus der methodischen Selbstdisziplin – es ist eine Gewalt gegen sich selbst, die nichts anderem dient, als in den Stand der Unschuld zurückzufinden.
Die Farbe dieser Unschuld ist für ihn Weiß. Weiß ist Jacksons Haut geworden, weiß ist letztlich auch sein berühmter Moonwalk, jener schwerelos nach rückwärts vorauseilende Tanzschritt. Hätte er ihn gegen den schlurfenden, von fehlenden Schnürsenkeln behinderten Schritt eines schwarzen Strafgefangenen überhaupt tauschen können? In dieser Frage lag, von der Ikonografie des Pop her gesehen, schon eine Vorwegnahme des Urteils. Der Schlurfschritt ist die Geste einer weit jüngeren schwarzen Popkultur, die sich damit vor dem kriminellen Bruder im Gefängnis verbeugt. Hätte sich der einzige schwarze Musiker, der sich fast vollständig in einen Weißen verwandelt hat, im Gefängnis wieder einem schwarzen Code unterwerfen können?
Nein. Man könnte mit der gebotenen symbolischen Übertreibung sagen: Einen Schwarzen, der so hart gearbeitet und sich den Weißen bis zur Selbstaufgabe genähert hat, nun zur Umschmelzung zurückzugeben in den Kessel, das konnten die nichtschwarzen Amerikaner, von denen die Jury gebildet wurde, nicht zulassen.
Sie vermochten ihn aber auch nicht wirklich freizusprechen. Dass er, von der irreparabel darniederliegenden Karriere einmal abgesehen, glimpflich davonkam, ist begrüßenswert nur im Sinne der dürftigen Beweislage. Ob das Urteil auch den Tatsachen entspricht, wird wohl nie mehr ans Licht kommen. Zur Art der Prozessführung gehörte nämlich auch, dass mögliche Tatbestände unter einem Wust an Gutachten, widersprüchlichen Zeugenaussagen, vermeintlichen Enthüllungen und Gegenenthüllungen verschwanden. Wer hat noch einen Überblick über die hundertseitigen Anklageschriften, die im Internet kursieren? Und was wird dort aus ihnen, wenn sie weiter kursieren, als Kopien und Kopien von Kopien? Ein unerschöpfliches, unkontrollierbares Material von Legenden.
Jackson kämpfte nicht nur mit Symbolen, er kämpfte auch mit den Mitteln des Rechts, und das ist am Ende sein Verhängnis. Denn es gibt auch eine Rache des Rechts. Jackson wurde freigesprochen, aber damit hat er, der immer seiner kindlichen Unschuld nachjagte, in den Augen der Öffentlichkeit seine Unschuld erst recht verloren. Der »King of Pop« ist auf mysteriöse Weise schuldig. Jackson hat den Prozess allein schon durch das Ausbreiten des Materials verloren, durch die öffentliche Intimisierung und Ausleuchtung seines Lebens. Der Prozess selbst war das Urteil, ein Standgericht in Permanenz. Er konnte ihn nur verlieren. Die Frage von Schuld oder Unschuld verwandelte sich für alle sichtbar in eine Frage der szenischen Aufbereitung vor Gericht. Dies ist die vorläufig letzte Lehre aus der Causa Jackson, und sie ist bitter: Prozesse solcher Prominenz sind wie sublimierte Kriege. Hier wie dort stirbt die Wahrheit zuerst.
Ich weiss was ein bisschen viel
was haltet Ihr davon???
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