20.06.2005
Barbara Sichtermann
Menschenjagd
Prominente und das Gericht des Publikums
Von Barbara Sichtermann
Er lebte ein seltsames Leben, der "King of Pop - "strange" sagt man dazu auf Englisch: als umschwärmter Sänger, Tänzer, Entertainer und als Bewohner einer Märchenranch mit Namen Neverland, als Kinderfreund auf den Spuren Peter Pans und als Weltstar.
Im zarten Alter von fünf Jahren schon hat Michael Jackson auf der Bühne gestanden, mit seinen Geschwistern, der Vater übte ein strenges Regiment. Eine Kinderzeit gab es für Michael nicht, dafür Disziplin und Erfolg. Ist er nun beim Versuch, das nachzuholen, was ihm einst versagt war, ein Leben mit Kinderfreuden, zu weit gegangen und hat einen oder gar mehrere Jungen missbraucht, auf Abwege geführt? Niemand außer den Betroffenen weiß das, aber alle, die den Star einst feierten oder auch nicht, empfanden eine Art Zwiespältigkeit bei dieser Gerichtsverhandlung und bei diesem Urteil. Eine Mehrheit gönnt Jackson seinen Freispruch nicht. Warum?
Die zwölf Geschworenen entstammten dem einfachen Volk, und sie haben Recht gesprochen, wie man es von ihnen verlangt und ihnen zumutet: Zweifel an der Unschuld des Angeklagten konnten nicht ausgeräumt werden, gültige Beweise für ein Vergehen gab es nicht - und so auch keinen Schuldspruch. Damit könnte sich das Volk in den USA und auch hier zufrieden geben. Das geschieht aber nicht. Wenn schon die Geschworenen und ihre Rechtsfindung nicht offen angegriffen werden, dann wenigstens der Sänger und seine Zukunftspläne. Ein Stadion werde er nicht mehr füllen, aus sei es mit ihm und der Faszination, auf die er seine Karriere baute. Außerdem habe er Schulden.
Nun, einstweilen hat er auch noch eine Menge Fans, die nach dem Freispruch jubelten, und ob er nicht doch noch einen Neustart hinlegen wird, das kann man heute nicht sagen. Worüber sich aber nachzudenken lohnt, ist die Neigung des großen Publikums, Glamourstars, die es erst mit seiner Begeisterung in den Himmel gehoben hat, hernach in den Orkus zu stürzen, wenn es ihrer überdrüssig geworden ist oder wenn sie in einem ungewohnten Licht erscheinen - sei es, dass sie von den Drogen nicht lassen können oder sonst ein Privatleben führen, das von der Norm abweicht, sei es dass sie zu patriotisch oder nicht patriotisch genug sind oder dass sie die Ehe brechen. Mega-Star Ingrid Bergmann wurde vom amerikanischen Publikum verdammt und verbannt, weil sie Mann und Kind zu Gunsten eines italienischen Filmkünstlers aufgab, und Marlene Dietrich wurde vom deutschen Publikum geschmäht, weil sie ******-Deutschland verlassen und sich auf die Seite der Amerikaner geschlagen hatte. Im Grunde hatten die Lebensentscheidungen der Diven mit ihrer Schauspielkunst nichts zu tun, und beide erholten sich vom Ingrimm ihres Publikums und den darauf folgenden Schaffenskrisen. Gleichwohl muss man fragen: Warum straft ein Publikum seine Stars viel härter als jedes Gericht, wenn sie fernab ihres Berufes Dinge tun, die nicht populär oder nicht erlaubt sind, aber den Leuten, die sie aus dem Kino, vom Fernsehen oder von der Konzertbühne kennen, gar nicht schaden?
Die Erklärung, dass nach der Hochjubelung die Herabsetzung folgen müsse, hört sich allzu mechanisch an, um hinzureichen. Zumal es ja auch Stars gibt, die immer wieder hochgejubelt und nicht vom Sockel gestoßen werden. Es ist wohl das Bizarre, das Absonderliche, der Tabubruch, die Grenzüberschreitung, die ein bewunderndes Publikum in ein Buh-rufendes verwandelt. Eine Filmschauspielerin, die liebende Frauen verkörpert, darf keine Ehebrecherin sein. Eine Diva, deren Vater ein preußischer Offizier war, darf ihrem Vaterland nicht den Rücken kehren. Und ein Popidol, das die Jugend hinreißt, darf kein seltsames Leben als Peter Pan-Inszenierung führen. Was das Publikum von seinen Helden verlangt, ist, dass sie der Normalität verhaftet bleiben, auch wenn sie durch das enorme Echo ihrer Verehrer dieser Normalität gerade entrückt worden sind. Das Publikum verlangt das Unmögliche: der Star soll Gott sein, aber zugleich bitte auch ganz Mensch, kein Unmensch und kein Übermensch, sondern ein Mitmensch. Und das geht eben nicht, wenn die Dimensionen des Ruhms und des Reichtums eine gewisse Außerordentlichkeit erreicht haben. Dann entschwinden fast alle Mega-Stars in ein irgendwie geartetes Neverland.
Der Verdacht auf eine Straftat kommt da gerade recht. Jetzt wurde eine andere Bühne für "*****" gebaut, als die, auf der er den Moonwalk vorführte. Die Bühne hieß Gericht, und er spielte Rolle des unüblichen Verdächtigen. Der Prozess, dem sein Volk ihm macht, hat wenig zu tun mit dem Sinn der Anklage. Das Verfahren, das das Publikum gegen ihn angestrengt hat und das sein Echo in der Presse findet, beschuldigte den Star der Treulosigkeit gegenüber seiner Gefolgschaft: dass er zu hoch gestiegen ist und zu weit abseits angekommen ist, als dass die Menschen ihn noch verstehen, als dass sie sich noch geliebt fühlen könnten. Dafür wollen sie ihn strafen. Auch wenn das ordentliche Gericht ihn freispricht.
Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, lebt als freie Autorin in Berlin. Sie ist Kolumnistin der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Ihre letzten Buchveröffentlichungen: "Lebenskunst in Berlin" (mit Ingo Rose) und "Romane vor 1900" mit (Joachim Scholl) und "Das Wunschkind" (Mitautor Klaus Leggewie)