Günter Wallraff beim Gespräch: “Die tun das Gegenteil von dem, was ich mache.”Einseitigkeit, Hetze und menschenverachtende Propaganda wird der BILD-Zeitung seit der Gründung immer wieder vorgeworfen. Einer, der es wissen muss, ist Günter Wallraff. Vor fast 30 Jahren schlich er sich unter falschem Namen als Mitarbeiter in die Redaktion von “BILD Hannover” ein und machte deren teils skandalöse Methoden öffentlich. Im Gespräch erklärt er unter anderem, was er über die Leser von BILD denkt und was die Zeitung so gefährlich macht.
Was wäre in diesem Interview das Erste, was Sie ein “Bild”-Redakteur fragen würde?
Ich kann mich nicht mehr in die Mentalität dieser Fälscher hineinversetzen. Es wäre ohnehin egal, was man denen antwortet oder nicht antwortet. Man müsste all die, die sich mit diesem Blatt einlassen, einen Vertrag unterschreiben lassen, in dem steht, dass alles, was man von nun an sagt, gegen einen verwendet werden kann. Von daher sollte man am besten mit denen überhaupt nicht reden. Ich würde nie mit einem BILD-Zeitungsmenschen ein Interview machen. Deren Urteil steht meist schon fest, bevor die Redakteure überhaupt beginnen, zu recherchieren. Das ist sehr oft eine reine Manipulation. Die eigene Rechtsabteilung - nach eigener Aussage zuständig für Schmutz und Schund - kalkuliert oft eine gewisse Geldstrafe fest mit ein.
Dieser Fragesteller wäre kein Journalist für Sie?
Nun, das kommt darauf an. Ich würde das nicht generalisieren. Inzwischen gibt es dort sehr wohl Leute, die versuchen, sich von diesem Trend abzusetzen. Die haben aber meist in der Redaktion kein besonders hohes Ansehen. Ich habe sogar Informanten bei BILD, die mir ab und zu etwas aus dem Innenleben der Zeitung berichten - heimlich, weil sie sonst ihren Job verlieren.
Nicht nur schlechte Menschen also…
Nein. Der Charakter desjenigen jedoch, der dort allzu lange arbeitet, wird mit der Zeit zerstört. Ich kenne Menschen, die mit den besten Absichten dorthin kamen und nach einigen Jahren nicht wieder zu erkennen waren. Oft ist das wie nach einer Art Gehirnwäsche. Ich habe das ja während meiner Zeit als Hans Esser in der BILD Redaktion selbst erlebt. Meine Freundin sagte damals oft zu mir: “Mensch, das ist ja wieder typisch Esser, wenn das der Wallraff wüsste!”
Sie haben diese Methoden ja deshalb so detailliert beschreiben können, weil Sie sich selbst unter dem Decknamen ‘Hans Esser’ in die Redaktion von BILD in Hannover eingeschleust haben. Woher kam die Idee, der Anreiz, dazu?
Ich hatte im Zuge eines Dokumentarfilmes Gespräche mit Opfern, aber auch ehemaligen “Tätern” von BILD, die bereit waren, über die Methoden der Zeitung auszusagen, verfolgt. Einer von denen hatte mir das als Wiedergutmachung angeboten. Dieser Mensch war damals wohl bei BILD gelandet, wo er unfreiwillig zum Spitzenschreiber wurde. Am Ende erzählte er, er könne sich vor dem Spiegel selbst nicht mehr in die Augen schauen. Dieser Mann schlug mir vor, ich könne doch selbst dort anfangen, um die Missstände zu beweisen. Erst war ich sehr skeptisch. Ich war überzeugt davon, dass die viel zu gewieft sein würden, um mich nicht zu enttarnen. Dieser Aussteiger jedoch machte mir klar, dass durch dieses Machtbewusstsein, diese Selbstherrlichkeit, die Türen von BILD weit offen stünden.
Es war also nicht allzu schwer, in diese Redaktion hereinzukommen?
Genau das war für mich das Überraschende. Allerdings hatte ich auch ein paar “Köder” ausgelegt, die mich glaubwürdig machen sollten. Ich behauptete, ich sei Leutnant bei der psychologischen Kriegsführung gewesen und hätte in der Werbung gearbeitet. Und als der Chefredakteur das hörte, strahlte er nur: “Sie sind unser Mann, denn im Grunde machen wir hier auch nichts anderes.”
Als er mich im Zuge des Einstellungsgespräches jedoch mit zu sich nach Hause nahm, wäre diese Lüge beinahe aufgeflogen. Nachdem er seine Wohnung in einen Schießstand verwandelt hatte, gab er mir ein Gewehr und wollte mit mir ein Wettschießen machen. Da ich in Wirklichkeit Kriegsdienstverweigerer war und nicht im Geringsten mit einer Waffe umgehen konnte, erklärte ich ihm dann, ich hätte einen Sehfehler.
Wenn das alles ein so großer Konflikt für Sie war, wenn Sie all diese Methoden so furchtbar fanden, wie war es dann überhaupt möglich, dass Ihre Redaktion so großes Vertrauen zu Ihnen fasste, dass Sie am Ende beinahe sogar befördert worden wären?
So unglaublich es klingt: Es gab in dieser Redaktion damals ganz einfach viele Menschen, die in ihrem Leben nie etwas mit Journalismus zu tun gehabt hatten. Deren einzige Fähigkeit bestand darin, Leute zu überrumpeln. Ich hingegen habe manchmal auch Texte vorgelegt, die von der Schreibe her etwas ungewöhnlich waren. Ich habe einiges gemacht, mit dem ich BILD unterwanderte; viel von dem, was ich schrieb war jedoch purer Schwachsinn. Auf der anderen Seite habe ich mich auch einfach angestrengt, dort möglichst unauffällig zu überwintern.
Genau das muss doch ein großer innerer Konflikt für Sie gewesen sein. Wie sind Sie damit klargekommen?
Aus politischen Themen versuchte ich mich gänzlich herauszuhalten. Ich war für die “Wald- und Wiesenthemen” zuständig. Und teilweise war es mir auch möglich, Artikel und Kampagnen von BILD zu sabotieren. Einmal bekamen wir beispielsweise vom Verfassungsschutz ein Dossier auf den Tisch, mit dessen Hilfe wir linke Lehrer “abschießen” sollten. Das habe ich verschwinden lassen. Oder ich warnte Leute vor, von denen ich eigentlich Fotos beschaffen sollte. Wenn man von Eltern eines getöteten Kindes kein Foto bekam, war man angewiesen, ihnen anzudrohen, man besorge eines aus dem Leichenschauhaus, das natürlich nicht mehr so gut aussehe. Dann stellte man die Eltern vor die Entscheidung. Diese Eltern bestärkte ich mit der Bitte, mich nicht zu verraten, das Foto des Kindes nicht herauszugeben. Es war aber häufig, dass Artikel komplett umgeschrieben wurden. Ich erinnere mich da an eine Geschichte über Piranhas; eigentlich harmlose Aquarienfische. Später wurden daraus in dem fertigen Artikel “blutrünstige Monster” und die Schlagzeile: “Piranhas rissen Museumsdirektor Stücke aus der Hand - Ärzte nähten sie wieder an.” Das alles war von dem Redaktionsleiter völlig frei erfunden. Das einzige, das von meinem ursprünglichen Artikel noch übrig geblieben war, war die Autorenkennzeichnung.
Bekannt geworden waren Sie ja auch schon vor ihrer BILD-Aktion, beispielsweise indem Sie die Missstände in deutschen Betrieben aufdeckten. Da Sie sich Ihre Informationen über eine unkonventionelle Art, durch die Übernahme einer eigenen, betroffenen Identität beschafften, benannte man diesen neuen Recherchestil nach Ihnen: Wallraffen. Tut man bei BILD nicht im Prinzip genau das gleiche?
Nein. Die tun das genaue Gegenteil von dem, was ich mache. Für mich ist ein absoluter, geschützter Bereich das Privatleben - der Intimbereich - eines Menschen. Ich habe über sehr mächtige Gegner, die auch gegen mich prozessierten, aus dem Privatleben viel in Erfahrung gebracht: Über Axel Springer zum Beispiel. Dinge, die teilweise sogar Straftaten beinhalteten. Ich habe mir das jedoch nie zunutze gemacht. Umgekehrt hat mich BILD beinahe ein Jahr lang durch ein Reporterteam belagern lassen, das bis in meine privatesten Beziehungen hinein recherchierte. Die gingen sogar soweit, dass sie eine Frau als Lockvogel auf mich ansetzten, die ein Verhältnis mit mir beginnen sollte. Sie schickten Detektive und ließen mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes mein Telefon abhören. Während ich aus der Sicht des Schwächeren über den Stärkeren berichtete, taten die das genaue Gegenteil.
Sie haben immer wieder Dinge geäußert wie: “BILD ist ein Lügenblatt und sogar der Mülleimer ist zu schade dafür”…
Das sind jedoch keine Meinungsurteile, sondern gerichtlich legitimierte Tatsachenbehauptungen. So darf jeder heute BILD eine “professionelle Fälscherwerkstatt” und das “Zentralorgan des Rufmordes” nennen. Man muss sich klarmachen, dass die - im wahrsten Sinne des Wortes - über Leichen gehen. Ich habe Abschiedsbriefe gelesen von Menschen, über die BILD schändlich berichtet hatte. Darin stand oft, dass sie es mit dieser Schmach einfach nicht mehr ausgehalten hätten.
Trotzdem lesen täglich mehr als elf Mllionen Menschen BILD. Sind die alle dumm?
Nach PISA wissen wir selber, wie viele Verblödete und halbe Analphabeten dieses Land produziert hat. Das ist nichts Neues. Gleichzeitig gibt es auch Menschen, die sich aufgrund eines zu geringen Einkommens kein Abonnement einer hochwertigen Zeitung leisten können oder BILD aus Bequemlichkeit lesen. Oft gibt es zu BILD auch einfach keine Alternative. In vielen Betrieben ist das einzige, was man morgens zu lesen bekommt, die BILD Zeitung. Es gibt also unterschiedliche Motive. Wo die Leser die Wahl zwischen verschiedenen Boulevardzeitungen haben, wie beispielsweise in Köln mit dem Kölner Express, greifen sie meistens zu den Alternativen. All diese Zeitungen sind wie Drogen. Nur ist Bild ein wesentlich aggressiverer und gefährlicherer Stoff.
Drogen sind aber doch im Allgemeinen schlecht. Was, glauben Sie, ist dann das Geheimnis des Erfolges von Boulevard, was macht so “süchtig” daran?
Ich würde aus der Masse dieser Blätter schon BILD als besonders problematisch hervorheben. Vor einiger Zeit ließ BILD selbst von Psychologen eine Studie erstellen. “Psychoanalyse der BILD Zeitung” wurde sie genannt. In dem als vertraulich deklarierten Ergebnis wird ganz offen angegeben, BILD sei “Richter und Berichterstatter zugleich“ und „väterliche Autorität und mütterliche Fürsorge”. Der Leser solle sich dem “überlegenen Angreifer BILD unbesorgt anvertrauen.” Hier kommt ganz klar diese autoritäre Über-Ich-Funktion zum Vorschein. Ein früherer Chefredakteur des Blattes nannte seine Leser schlicht und ergreifend “Primitivos”. Die wussten, was sie von ihren Lesern zu halten hatten. Ein ehemaliger Chefideologe nannte die Leser von BILD „die quicklebendigen, modernen Analphabeten.“
Also “Leser sollen nicht selbst denken, sondern gedacht werden” als heimlicher Leitsatz von BILD?
BILD ist mehr Manipulator als Aufklärer. Der Leser soll mit Halbwahrheiten, Verdrehungen oder auch Lügen nach bestimmten Absichten beeinflusst werden.
Was sind dann Ihrer Meinung nach die größeren Ziele der Zeitung?
Bei der Demonstration eines Aufklärungsblattes. Nun, die ursprüngliche Absicht von Axel Springer war eine “Volksgemeinschaftsideologie”. Er ging also davon aus, dass sich jeder in einer Gesellschaft am richtigen Platz befinde. Da wo man zufällig hingeboren sei, solle man sich bescheiden und “verdammt noch mal nicht aufmucken” oder seine Rechte fordern. So wie die Welt sei, sei sie richtig aufgeteilt. In einigen Artikeln von BILD sollte dem Leser genau das geradezu parabelhaft beigebracht werden. Ich erinnere mich an die Aktion: “Einmal Chef sein!” BILD ließ einen einfachen Arbeiter einen Tag lang auf einem Chefsessel sitzen und dessen Aufgaben wahrnehmen. Das lief darauf hinaus, dass dieser Arbeiter am Ende angab, er sei froh, wieder an seiner Maschine stehen zu dürfen und wolle nie wieder Chef spielen. Mit dieser reinen “Verarsche” wurde suggeriert, jeder stehe an seinem Platz richtig und solle ja nichts in Frage stellen oder gar politisch aufmucken.
Des Weiteren vertritt BILD im Allgemeinen immer eher die Ziele der rechteren Parteien. Das war auch das große Schicksal von Exkanzler Schröder. Obwohl er sich einen ehemaligen BILD Redakteur zum Pressesprecher gemacht hatte und in BILD sein gesamtes Privatleben offen legte, musste er im Wahlkampf einsehen, dass ihm das überhaupt nichts genutzt hatte. Ganz im Gegenteil, Bild startete eine Kampagne gegen ihn, die sich gewaschen hatte. Schließlich war er so sauer, dass er Springermitarbeiter nicht mehr auf seine Reisen mitnahm. Das wurde ihm als “Anschlag auf die Pressefreiheit” übel genommen.
Wenn Sie nach fast 30 Jahren, die Ihre Aktion bereits zurückliegt, Ziele mit wirklich Erreichtem vergleichen, was glauben Sie, haben Sie dann verändern können?
Ich war und bin in dieser Beziehung wenig größenwahnsinnig und hätte mir deshalb nie ausmalen können, welche Wirkung meine Veröffentlichungen haben würden. So konnte ich die Auflage von BILD vorübergehend um einige hunderttausend Exemplare zurückgehen lassen. Ich habe Aufklärungsbewusstsein geschaffen. Lange Zeit war BILD deswegen sehr in der Defensive. Ganz konkret wollte eine lange Zeit über kaum noch jemand bei denen arbeiten, obwohl man dort eine hohe „Schmutzzulage“ bezahlt bekam. Auch viele Gerichte sehen die Menschenrechtsverletzungen, die BILD begangen hat und begeht, nicht mehr als Kavaliersdelikt an und sind sensibilisiert. So können mittlerweile viel mehr Gegendarstellungen und härtere Urteile, wie beispielsweise Zahlungen von Schmerzensgeld, durchgesetzt werden. Die Anzahl der massiven Rufmordfälle ist so vielleicht auch ein wenig zurückgegangen. Und wenn heute eine „BILDblog-Bewegung“ entstanden ist, dann habe ich eventuell auch dafür eine Vorläuferfunktion.
Was finden Sie an BILD positiv?
(Atmet tief durch) Nun es gab hier und da Chefredakteure, die in sich gingen und die Flucht nach vorn versuchten. Einer bezeichnete mich gar als „heilsamen Schock“. So ließ sich ein Chefredakteur zugute halten, dass sich während seiner Zeit ja niemand aufgrund eines Artikels das Leben genommen habe. Inwiefern das schon etwas Positives ausmacht, ist jedem selbst überlassen.
Fällt Ihnen nichts ein, das BILD den Lesern Gutes tut?
Da gibt es nichts. Selbst die vermeintlich soziale Rubrik „Bild kämpft für Sie!“, auf die viele Menschen hereinfallen, ist meist nichts anderes als eine Schlagzeilenfabrik, die Menschen in ihren Notlagen ausnutzt und oft auch ganz enorm schadet. Das ist dann kein Spaß für die.
Wenn über die Macher der Zeitung, wie beispielsweise Kai Diekmann, berichtet wird, verstehen die doch aber Spaß, oder?
Nein. Als beispielsweise die “taz” den Spieß einmal umdrehen wollte und einen als Satire gekennzeichneten Artikel über Herrn Diekmann brachte, begann der ernsthaft einen Prozess gegen die Zeitung. Der verstand überhaupt keinen Spaß, obwohl der Artikel eindeutig als nicht ernsthaft gekennzeichnet war. Genau das sind die Texte in BILD eben nicht. Natürlich scheiterte seine dummdreiste Schmerzensgeldforderung vor Gericht.
Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch, Herr Wallraff.
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