Ich dachte mir ein Thema um speziell russische und osteuropäische Künstler zu behandeln wäre vielleicht ganz interessant. Die meisten bereits vorhandenen Threads behandeln ja westliche Künstler. Musik aus den früheren Sowjetrepubliken Zentralasiens und des Kaukasus kann natürlich auch angesprochen werden, ich konnte diese nur nicht mehr in die Überschrift mit aufnehmen.
Da ich mich vorstellen könnte, dass die meisten hier aus dem Forum nicht viele Musiker aus "dem Osten" kennen habe ich eine kleine Einleitung zum Thema parat. Im Text habe ich einige Liedtitel mit Links hinterlegt, die euch zu den entsprechenden Liedern führen, damit ihr eine Vorstellung bekommt wie das alles klingt worüber ich schreibe. Ich würde mich freuen eure Meinungen zu hören, vielleicht hört ihr euch ja einige der Lieder an oder kennt selbst noch andere Stücke, und stellt diese hier vor.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks ging der Sturz vieler sowjetischer Sänger in die Bedeutungslosigkeit einher. Beispielhaft hierfür kann Eduard Chil stehen: Seit den 1960er Jahren war der in Leningrad lebende und aus Smolensk stammende Chil ein ganz großer der sowjetischen Musik. Er wurde mit Orden und Auszeichnungen überhäuft, trat sogar im schwedischen Fernsehen auf und durfte im Zuge einer Welttournee Frankreich und die USA bereisen. Die Konzertbesucher waren zwar größtenteils russische Auswanderer der ersten oder zweiten Generation, nichtsdestotrotz war dies in Zeiten des Kalten Krieges zweifellos ein Privileg für einen Sänger. In den 1990ern flaute Chils Erfolg ab, seine letzten Konzerte gab er 1994 in Moskau und St. Petersburg. Nach der Jahrtausendwende gehörte er endgültig zum alten Eisen, niemand kaufte mehr seine Platten. Wahrscheinlich wäre es ihm genauso gegangen wie den meisten sowjetischen Musikstars, wenn nicht eines seiner Lieder 2010 ins Internet gestellt worden wäre, und als Troll-Lied Berühmtheit erlangt hätte. Es ist tragisch dass einer der erfolgreichsten sowjetischen Musiker heute nur noch durch ein Youtube-Video bekannt ist.
Neue Helden
Auf Chil folgten neue Musikstile. Die extremen wirtschaftlichen Probleme Russlands in den 1990er Jahren hemmten die Entstehung neuer musikalischer Talente, da kaum einer es sich leisten konnte ein Tonstudio anzumieten und seine Lieder dann zu veröffentlichen. Erschwerend hinzu kam noch dass kaum mit Gewinn aus dem Verkauf von Alben zu rechnen war: 2001 kamen auf jedes verkaufte Album zwischen zwei und vier illegal vertriebene Kopien, bei Singles (die in Russland ohnehin kaum populär sind) lag dieser Wert sogar bei einem Verhältnis von 1:20! Internationale Musikunternehmen wie Sony Music und Universal Records interessierten sich nicht im geringsten für den russischen Musikmarkt.
Kurz nach der Jahrtausendwende erwachte die russische Musikszene dann aus ihrem Dornröschenschlaf: Ya Soshla S Uma kam auf den Markt, die erste Single des Duos "Taty". Das Lied und das dazugehörige Musikvideo verbreiteten sich rasant, die Single verkaufte sich über 50.000 mal. Für russische Verhältnisse war dies ein phänomenaler Wert! Die Existenz des Gesangsduos ist Boris Renski zu verdanken, einem russischen Geschäftsmann der gern in neue Musikprojekte investiert. 30.000 Dollar, so viel kostete das Musikvideo, und weitere 30.000 Dollar die Produktion des restlichen Albums. In den USA hätte man für dieses Geld niemals einen Videoclip produzieren können, aber für russische Verhältnisse war dies eine Menge Geld - gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise! Doch die zwei Millionen verkauften Exemplare des Debütalbums des Duos sprachen für sich. Zweifellos war t.A.T.u.s (So der internationale Bandname) Erfolg in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion auch auf das Lesben-Image der Band zurückzuführen. Die in der Sowjetunion aufgewachsenen Jugendlichen kannten kein Marketing, keine Skandale, für sie war dies etwas völlig neues. Aber auch der Musikstil der Gruppe war bis dahin einmalig in Russland. Mit Nas Ne Dogonyat gelang ein zweiter Nummer-Eins-Hit in Russland, Polen, Bulgarien, den baltischen Staaten, Tschechien und der Slowakei.
Revolution des Musikmarktes?
2002 und 2003 erzielten t.A.T.u. in Europa, Japan und Nordamerika große Erfolge mit englischsprachigen Veröffentlichungen wie All the Things She Said. Dabei ist aber zu beachten, dass die englischen Lieder in London und Los Angeles aufgenommen wurden, und nahezu das gesamte Produktionsteam bestand aus Amerikanern und Briten. Mit ihren russischsprachigen Veröffentlichungen hätten t.A.T.u. unter den russischstämmigen Jugendlichen großen Erfolg gehabt, hätten aber niemals die Top-10 der Charts erreicht. t.A.T.u.s Stil wurde rockiger, die Lieder mit Gitarren durchsetzt. Elektropop und Eurodance waren in Europa seit den 90ern Out, mit Pop-Rock konnte man die Charts stürmen!
Der Versuch mit dem russischen Lied Ne Ver', Ne Boisya den Eurovision Song Contest 2003 zu gewinnen scheiterte, was aber auch an dem gnadenlos schlechten Live-Qualitäten t.A.T.u.s gelegen haben könnte. Dennoch zeigte sich einmal mehr: Osteuropäer und Westeuropäer trennten Welten in Sachen Musikgeschmack. Die englischen Lieder von t.A.T.u. werden bis heute in russischen Radios kaum gespielt, die russischen hingegen zählen weiterhin zu den Favoriten verschiedener Dance- und Elektrosender.
Einige Musikexperten hatten damit gerechnet, dass westliche Plattenlabels sich fortan mehr mit dem russischen Markt beschäftigen würden. Daraus wurde aber nichts.
Voller Erwartungen
Das russische Gesangsduo Nichya wurde 2003 von Sony Music unter Vertrag genommen, nachdem es in Russland durch das Internet mit dem gleichnamigen Lied Nichya Bekanntheit erlangt hatte. Sony Music hoffte den zweiten erfolgreichen russischen Musikexport in den Westen landen zu können. Doch daraus wurde nichts: Mit Pain to Choose erschien ein englischsprachiges Lied von Nichya in Japan, schaffte es dort aber nichteinmal in die Charts. Das russische Lied Navsegda schaffte es dann selbst in Russland nur noch auf Platz 48. Der Plan von Sony Music, die bereits voller Erwartungen einen Zehn-Jahres-Vertrag samt zwei weiterer Alben mit Nichya abgeschlossen hatten, war fehlgeschlagen. 2006 wurde das Duo aufgelöst.
2008 gewann Dima Bilan mit dem Lied Believe den Eurovision Song Contest, er hatte auf ein englisches Stück gesetzt und damit gepunktet. Dennoch erreichte Believe nur Platz 52 der deutschen Charts, wobei die ESC-Siegertitel normalerweise mindestens die Top-10 erreichten. Und der Rapper Timati schaffte es 2011 mit dem Sommerhit Welcome to St. Tropez auf Platz drei der deutschen Charts. Allerdings sang auch er auf englisch, das Lied war im Westen produziert worden und auch das Musikvideo entstand in Kalifornien. In seiner Heimat Russland hat Timati während seiner gesamten Karriere noch nie einen Top-10-Hit gelandet, und auch im Westen war das genannte Stück sein einziger Erfolg.
Heutige Situation
In Russland gibt es ein Sprichwort: "Wenn du deinen Ruhm in Russland verlieren willst, versuche im Westen erfolgreich zu sein!" Und so ist es auch: Lena Katina, eine Hälfte von t.A.T.u., startete 2010 eine Solokarriere. Katina lebt und arbeitet seit mehreren Jahren in Los Angeles, hat Russland weitgehend den Rücken gekehrt. Und so kam es, dass während ihre Single Never Forget in den US-Dance-Club-Charts auf Platz 1 stand, sie in Russland selbst nichteinmal die Top 100 erreichte.
Weder kommt russische Musik in Westeuropa oder den USA an, noch lassen sich die Russen für westliche Musiker begeistern. In den letzten Jahren nahm die Anzahl ausländischer Veröffentlichungen in Russland zwar stark zu, sie erreichen aber nicht den Status heimischer Veröffentlichungen. Während ein russischer Künstler 100.000 Alben verkaufen muss um eine Goldene Schallplatte zu erhalten, sind es bei ausländischen Musikern nur 10.000 - ein Verhältnis von 1:10! So kann Lady Gaga sich zwar über Vierfachplatin für ihr Album Born this Way freuen, tatsächlich in Konkurrenz zu russischen Künstlern treten kann sie damit aber nicht. Dennoch haben sich beide "Musikwelten" einander angenähert: Russische Produktionen klingen inzwischen professioneller produziert, und die amerikanischen und westlichen Charts beinhalten wieder mehr elektronische Musik. Man darf gespannt sein wer mehr Einfluss auf wen nehmen wird: Werden russische Künstler irgendwann vermehrt auch in den deutschen Charts auftauchen? Oder werden die Russen früher oder später mehr Gefallen an Lady Gaga, Robbie Williams und Co. finden?
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