Der bedeutendste Neuzugang in diesem kreativen Team kam jedoch möglicherweise erst im letzten Jahr hinzu. Jackson war immer noch unzufrieden mit vielen der rhythmischen Titel. Er wollte, dass sie härter trafen und sich kribbeliger anfühlten. Mit diesen Gedanken im Kopf streckte er seine Fühler nach dem damals 23-jährigen New Jack Swing Innovator Teddy Riley aus. Seit der Veröffentlichung von „Bad“ 1987 hatten sich R&B und Hip-Hop in eine Vielzahl von Richtungen entwickelt, es ging von provokativem staatsfeindlichem RAP bis zu sexueller Stumpfheit bei LL Cool J und aggressivem New Jack Swing bei Bobby Brown. Jackson wollte Elemente aus neuesten Innovationen und Sounds nehmen und sie miteinander verbinden, verzerren und mit seiner eigenen schöpferischen Vision verschmelzen. Während „Dangerous“ oftmals charakterisiert wird mit New Jack Swing – ohne Zweifel durch die Anwesenheit Teddy Rileys – ist Jacksons Ansatz klar erkennbar. Die Beats sind oft dynamischer und knackiger, die Rhythmen synkopischer und die Sounds instinktiver und industrieller. Bereits vorhandene Sounds werden überall als Percussion eingesetzt: hupende Hörner, schleifende Ketten, schwingende Tore, zersplitterndes Glas, zusammenkrachendes Metall. Häufig vollführt Jackson auch Beatboxing und abgehetzte Atemgeräusche und schnipst mit den Fingern.
Nehmt einen Song wie „In The Closet“ und vergleicht ihn mit New Jack Swing der 80er oder frühen 90er Jahre. Die Unterschiede sind frappant. Hört euch die elegante Art an, wie das Piano den Weg für den erotisch kreisenden Beat bereitet. Hört euch an, wie der Song Spannung aufbaut und wieder loslässt, Spannung aufbaut und wieder loslässt bis schließlich bei 4:30 der Höhepunkt förmlich explodiert. Hört euch die wendige stimmliche Performance an, gedämpfte beichtende Erzählungen verdichten sich zu straffen Falsettharmonien, gleiten über in leidenschaftliche Seufzer, Keuchen und Aufschreie. Es ist Jacksons sexgeladenster Song und bedient sich dennoch der Unaufdringlichkeit und des Ränkespiels – selbst der Titel ziert sich, mit sexuellen Erwartungen zu spielen. Anders als bei den meisten R&B und Pop Songschreibern, liegen in Jacksons „Liebesliedern“ fast immer gewisse Doppeldeutigkeiten, dramatische Spannungen und Rätsel. Schaut euch auch „Dangerous“ an, in dem Text heißt es: „Tief in der Dunkelheit leidenschaftlichen Wahnsinns/ war ich ergriffen von der befremdlichen Unmenschlichkeit der Begierde“.
Es ist jedoch die zweite Hälfte des „Dangerous“ Albums, die Jacksons künstlerische Bandbreite demonstriert. Im Anschluss an den deklarativen Blockbuster „Black Or White“ offenbart Jackson einen seiner eindrucksvollsten Songs seines gesamten Katalogs, das eindringliche Meisterwerk: „Who Is It“. All jenen, die immer noch dem Mythos aufsitzen, Jacksons Arbeit sei nach den 80ern schwächer geworden, sollte dieser Song bereits genügen, ihre Meinung zu entkräften. Der Song wurde nicht nur meisterhaft produziert (und wetteiferte mit „Billy Jean“), es zeigt Jacksons emotionalstes Inneres: „Ich ertrage es nicht mehr, denn ich bin einsam“. „Give In To Me“ führt die düstere Melodie weiter, wobei Jackson hier nun seine angestaute Angst mit Hilfe von Slashs glühenden Gitarrengriffen entfesselt. Es ist ein Song, der sich neben der wechselseitigen Dynamik von laut/leise wie in „Nevermind“ oder der rauen, metallischen Struktur von U2s „Achtung Baby“ zuhause fühlt.
Was kommt als Nächstes? Ein Präludium aus Beethovens 9. Symphonie natürlich, gefolgt von zwei Songs: „Will You Be There“ und „Keep The Faith“, die ihre Wurzeln im schwarzen Gospel haben. Bevor er wieder vollends zurückkehrt zum industriellen New Jack Swing des Titelsongs, beschließt Jackson das Album mit einer zärtlichen Äußerung über die Vergänglichkeit des Lebens („Gone Too Soon“), dazu inspiriert wurde er durch das AIDS Opfer Ryan White. Manche mögen diese vielseitige, maximale Annäherung an ein Album höhnisch betrachten. „Dangerous“ wurde kritisiert, es sei zu lang, übertrieben und verschwommen. Was in aller Welt, fragten Skeptiker, hatte ein Song wie „Heal The World“ auf dem gleichen Album zu suchen, auf dem auch „Jam“ und „Dangerous“ waren? Natürlich war „Heal The World“ ein Kontrast zu den anerkannten Sounds und Themen eines Albums wie „Nevermind“. Jackson hätte mit Leichtigkeit diesen Weg gehen können, indem er den sieben rhythmischen Songs auf seinem Album, die er mit Teddy Riley erschaffen hatte, noch einige mehr hinzugefügt hätte. Letztendlich war es eine ästhetische Auswahl. Jackson legte sehr viel Wert auf Vielfalt und Kontraste, sowohl klanglich als auch thematisch. Er liebte die Vorstellung, das Publikum mit ungewöhnlichen Klangsequenzen oder unvorhergesehenen Gemütswechseln zu überraschen. Wenn R&B es traditionell nicht schaffte, gewisse Emotionen zu transportieren, so fand er einen Stil, der genau das konnte (damit verwandelte er das epische, bibelverwurzelte Pathos von „Will You Be There“ in Klassik und Gospel). Alben, so glaubte er, seien Reisen und wie er später bezüglich seiner „This Is It“ Konzerttournee erklären sollte, wollte er die Menschen mitnehmen an Orte, die sie niemals zuvor gesehen haben.
Ungeachtet stilistischer Vorlieben muss es doch möglich sein, wenigstens den Mut und die reine Begabung eines Künstlers anzuerkennen, der fähig war aus solch unterschiedlichen Quellen zu schöpfen und in einer solch großen Vielfalt von Genres Musik zu erschaffen. Könnte Axl Rose New Jack Swing machen? Hätte Curt Cobain Hip-Hop machen können? Hätte Chuck D Gospels machen können? Michael Jackson hingegen arbeitete genauso wunderbar mit Slash zusammen wie mit dem Andrae Crouch Chor oder Heavy D.
Was ist also 20 Jahre danach das Vermächtnis des „Dangerous“ Albums? Das Album war für Jackson ein künstlerischer Wendepunkt, hier lenkte er seinen Fokus stärker auf soziales Bewusstsein, ambitionierte Konzepte und eine breitere Palette von Sounds und Stilrichtungen. Außerdem beschreibt es den Gipfel an Ausdruckskraft im New Jack Swing und es leistete seinen Beitrag zum R&B der 80er und frühen 90er wie es Alben wie „Nevermind“ und „Ten“ für die Rockmusik taten. Seine R&B-RAP-Fusionen lieferten die Vorlage für kommende Jahre, indes machten ungleiche Künstler wie Nine Inch Nails und Lady Gaga seine industriellen Klangvorgaben und metallischen Beats später populär. In Bezug auf die allgegenwärtige Musikszene von 1991 – was für die Musikbranche ein wirklich bemerkenswertes Jahr war – mag es sein, dass das Album kulturell nicht so überwältigend war wie „Nevermind“, doch es war diesem Album (wie auch eine Handvoll anderer Aufnahmen) als eines der eindrucksvollsten künstlerischen Leistungen des frühen Jahrzehnts ebenbürtig.
Letzten Endes mögen Nirvana und Company den Rock der 80er ausgerottet haben. Doch sollte die Popmusik tot gewesen sein, so hat der „King“ erfolgreich Alternativen dafür geschaffen.
gott, wie ich mich auf das buch freue
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