Der Weise und der Tiger
Jeder Novize des Klosters kennt die Geschichte eines weisen Mannes, der eines Tages auf einem Hochplateau spazieren geht. Plötzlich hört er in einiger Entfernung hinter sich einen fauchenden Tiger, der offensichtlich auf ihn zukommt. Um dem Tiger zu entkommen, läuft er, so schnell er kann, rennt aber geradewegs auf einen Abgrund zu. Der Tiger kommt ihm immer näher. In seiner Not drückt sich der Mann an den äußersten Rand und kommt dabei ins Rutschen. Im letzten Moment kann er sich noch an einer Wurzel festhalten. Doch über ihm der Tiger, unter ihm der Abgrund, es gibt kein Entkommen. Alle Fluchtwege sind versperrt. Da erblickt der Mann vor seinen Augen eine wilde Erdbeere. Er pflückt sie, nimmt sie in den Mund und murmelt: "Wie köstlich, diese Erdbeere!". Das nenne ich im Augenblick leben! Auf den ersten Blick erscheint den meisten von uns das Verhalten des Mannes wohl befremdlich. Hat er in dieser Situation nichts Besseres zu tun, als über köstliche Erdbeeren nachzudenken? Sollte er sich nicht besser überlegen, welchen Lauf sein Schicksal in den nächsten Augenblicken nehmen wird? Sollte er das wirklich überlegen? Was würde es an diesem Moment ändern? Selbst wenn der Mann im nächsten Moment vom Tiger verschlungen wird oder in den Abgrund stürzt, warum soll er sein Leben nicht bis zum letzten Augenblick genießen? Warum sich nicht noch über die Erdbeere freuen?
Kein Moment ist gut oder schlecht, er ist einfach. Denn auch wenn die Lage des Mannes nicht die beste zu sein scheint, kann aus jedem Augenblick ein anderer entstehen, der nichts mit unserer Erwartung zu tun hat. Weil wir den Ausgang der Geschichte nicht kennen, dürfen wir ihn selbst erzählen: Der Tiger verliert das Interesse an dem Mann und zieht ab. Wäre doch eine Variante, oder? Natürlich ebenso wie die Möglichkeit, dass der Tiger den Mann verschlingt, aber eben eine Variante.
Nicht aber hätte dann die Erdbeere dem Mann das Leben gerettet und auch nicht sein Interesse an ihr. Nichts hat ihm das Leben gerettet. Der darauffolgende Moment hat nur unsere Erwartungen nicht erfüllt. Selbst wenn er sie aber erfüllt hätte wie in der anderen Variante, hätte ihn das deshalb besser oder schlechter gemacht? Kaum. Er war einfach da. Und der weise Mann hat ihn akzeptiert, wie er war.
........und ich finde das passt z.B. zu dem, was J. Kabat-Zinn in seinem Vortrag auch anspricht, nämlich das man sehr viel (zuviel?) Zeit mit "worrying about the future" (usw.) verbringt. Hab' noch nicht den ganzen Vortrag gesehen (ca. ein Drittel bisher), aber was da gesagt wurde, fand ich gut.
Und in dem Buch geht es in dem betreffenden Kapitel weiter noch darum, dass man Dinge, die man machen will, möglichst jetzt in Angriff nimmt und sie nicht immer wieder auf später verschiebt (da es irgendwann kein "Später" gibt).
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